4. Das neue Zuhause

Die Tage am Feldweg fingen an langweilig zu werden. Wir hatten genug zu essen und zu trinken. Inzwischen kannten wir fast jeden Baum und Strauch, selbst das Flussbett, in dem vor einigen Tagen ganz schön viel Wasser geflossen war, hatten wir genauestens erforscht. Wir waren kräftig und rund geworden und hatten selbst vor dem großen Fuchs, der irgendwo weiter oben am Flussbett seine Wohnung hatte und den wir für einen Wildhund gehalten hatten, keine Angst mehr.Meist schlich er in weitem Bogen an uns vorbei und beachtete uns kaum. Wahrscheinlich wusste er, dass wir mit Onkel Ari und Tante Kyra starke Freunde hatten. An einem Tag kamen Chefin und Ari ganz früh morgens, während wir noch schliefen. Ich hab im Schlaf etwas gehört, bin aber gar nicht richtig aufgewacht. Jedenfalls war nach dem Aufwachen schon jede Menge Futter da. Auch kamen die Chefin und der Boss einmal mitten in der Nacht, als es sehr kalt war und regnete. Sie kamen mit einem Auto, einem kleinen schwarzen. Später erfuhr ich, dass man diese kleinen Autos Smarties oder Smarts nannte. Sie machten die Türen des alten Datsun auf und bauten innen aus Papier und Stofffetzen ein Nest für uns. Wir haben zwar ein paar Stunden darin geschlafen, aber nachdem Lara dann anfing Platzangst zu bekommen und von ihrem Erlebnis im Renault zu erzählen, sind wir doch lieber raus gegangen ins Freie und haben letztlich wieder unter dem Datsun geschlafen. Nur einmal kamen am morgen weder Boss noch Chefin. Wir machten uns ernstliche Sorgen und sind trotz der Nähe zum Haus der Hexen bis zur Straße vor gelaufen. Doch unsere Freunde waren nirgendwo zu sehen, dafür donnerte ein riesiges Auto ganz knapp an mir vorbei. Ich bin fast zu Tode erschrocken. Wir warteten an diesem Tag lange Zeit vergebens, fraßen als der Hunger kam Würmer und Käfer. Ich habe sogar eine lebendige Schnecke probiert, doch die schmeckte scheußlich. Am Abend glaubten wir schon, Ari und Chefin würden nie mehr kommen, doch dann, es war bereits dunkel, kamen sie doch. Wieder mit dem Smart, und sie hatten viel Essen dabei, mit Fleisch und Knochen, so dass dieser Tage letztlich auch kein Problem war.

Lucy und Lara
Inzwischen sahen wir schon ganz gut aus
Smart
Der ominöse schwarze Smart

Die Tage wurden allmählich länger, und es wurde auch etwas wärmer. Da kam an einem Morgen die Chefin mit dem Fahrrad, brachte unser Essen, spielte eine Weile mit uns und sagte schließlich: „Auf, mitkommen“! Ich glaubte ich hätte mich verhört und setzte mich erst mal ganz verdutzt hin. „Nicht sitz, los mitkommen!“, sagte sie abermals, und anders als sonst schwang sie sich nicht auf ihr Fahrrad um davon zu fahren, sondern sie schob das Rad neben sich her. Vielleicht war es ja auch kaputt. Jedenfalls fuhr sie nicht, sondern ging zu Fuß. Also gingen wir mit, folgten Onkel Ari über den trockenen Fluss, kamen zu einem Weg, den wir nicht kannten, vorbei an einem Haus, bei dem viele große, bellende Hunde lebten. Ich hatte die Hunde schon eine ganze Weile vorher kläffen hören und war sicherheitshalber mal stehen geblieben, aber die Chefin rief mir. Na ja, sie war schließlich die Chefin, das war klar. Aber als wir dann dem Haus mit den Hunden immer näher kamen, ist es mir doch zu gefährlich geworden. „Vielleicht wäre es sicherer weiterhin unter dem Datsun zu leben“, überlegte ich mir und rannte schnell zurück. Lara die zunächst mit Onkel Ari weiter getrottet war, muss wohl gesehen haben, dass ich davon lief, denn plötzlich war sie bei mir, und Chefin und Onkel Ari waren weg. Lara rief: „Spinnst du? Jetzt nimmt uns die Chefin endlich mal richtig mit, und du haust einfach ab“! Es stimmte, sie hatte uns zwar schon vorher ein paar Mal ein Stückchen mitgenommen, war aber dann immer mit dem Fahrrad abgehauen. „Mir ist das alles zu gefährlich“, sagte ich zu Lara. „Denk dran wie das mit der alten Hexe war. Ich glaub, es ist nicht gut, so weit von unserem Platz wegzulaufen. Außerdem wird uns dann die Chefin am Abend nicht mehr finden. Dann gibt's nichts mehr zu essen“. Lara meinte: „Blödsinn! Wenn wir mit der Chefin gehen, gibt's dauernd was zu essen, ganz sicher“. Na gut, ich blieb mal stehen, mehr um zu verschnaufen und um nachzudenken, als dass ich bereit gewesen wäre Laras Ideen Glauben zu schenken. Da kam die Chefin auch schon mit dem Rad zurück zu uns gefahren und rief streng: „Halt, bleibt da! Wir gehen in die andere Richtung! Los mitkommen!“ Das Rad war also nicht kaputt. Lara folgte ihr wieder sofort. Na ja, da konnte ich auch nicht einfach stehen bleiben und ging ein Stück mit. Als dann aber die großen Hunde wieder so arg bellten, wusste ich nimmer aus noch ein und rannte in meiner Angst in einen Orangengarten hinein. Onkel Ari, Lara und die Chefin mit Fahrrad rannten bzw. fuhren hinter mir her. Wir rannten, bzw. die Chefin fuhr ziemlich flott zwischen den Bäumen durch. Dann standen wir vor einer Mauer aus dichtem Schilf. Wie sollten wir da bloß weiter kommen. Aber die Chefin scheint viel Kraft zu haben und wohl auch recht schwer zu sein, denn sie drückte nur ein wenig gegen das riesige Schilfgras und schon brachen die dicken Halme wie dürres Reisig zusammen und machten uns einen Weg frei. Gott sei Dank, dachte ich, nun brauchen wir nicht an den gefährlichen Hunden vorbei zu gehen. Wir begleiteten die Chefin weiter. Sie fuhr nicht wie früher davon und sie verjagte uns auch nicht irgendwo weit weg von unserem Schlafplatz, sondern rief uns, wann immer wir stehen blieben. Wir erreichten bald eine große Straße, schon ganz fertig von dem vielen Laufen. Vielleicht war es die gleiche große Straße, die wir von unserem Datsun aus sehen konnten. Ich wusste es nicht so genau. Dann marschierten wir durch eine Orangenplantage und standen plötzlich vor einem blauen Tor hinter dem es ganz stark nach Ari, Tante Kyra, Chefin und Boss roch. Hier wohnten sie also, das war Lara und mir sofort klar. Durch das Gatter des Tores hindurch konnte ich einen langen Garten sehen und ein Haus, nicht unähnlich dem der Hexen. „Vielleicht sollten wir da doch nicht rein“, sagte ich zu Lara, nur so um meine Vorbehalte geltend zu machen, und damit Lara hinterher nicht sagen könnte, ich hätte sie nicht gewarnt. Die Chefin zog an einer Kette, es gab ein heftiges bimmelndes Geräusch, was mich so erschreckte, dass ich einfach drauf los gepinkelt habe. Dann kam der Boss zum Tor und sagte „Wusste ich es doch, dass die noch bei uns landen!“. Wir gingen hinter Onkel Ari und der Chefin durch das Tor, hinein in einen wunderschönen Garten mit einem kleinen Haus, in dem Chefin und Boss wohnten. Wau, unser neues Zuhause. Mit meinen ängstlichen Befürchtungen lag ich offensichtlich ganz falsch. Von hier würden wir nie mehr fortwollen, das sagten wir uns beide fast gleichzeitig. Es dauerte auch nicht lange, da brachten die Chefin und der Boss ein kleines Haus für uns herangeschleppt. Die Chefin legte uns sogar ein Polster hinein. Wir krochen in unser erstes eigenes Haus, unsere eigene Hütte. Es war warm, urgemütlich, und wir schliefen sofort Arm in Arm ein. Konnte es einem jungen Hund noch besser gehen?

Hundehütte
Unser erstes eigenes Haus

Nach dem Aufwachen erkundeten wir den Garten. Herrlich war es dort. Überall roch es nach Tante Kyra und Onkel Ari. Ich versuchte sogar mit Kyra ein wenig zu spielen, merkte aber schnell, dass ihr das nicht passte. Sie war eine sehr strenge Tante, und sie konnte es gar nicht leiden, wenn wir an ihr hoch hüpften oder sie ableckten. Dann knurrte sie ziemlich böse und hat Lara gleich am zweiten Tag ziemlich heftig in den Bauch gezwickt. Onkel Ari war dagegen die meiste Zeit gut gelaunt. Mit ihm tobten wir durch den Garten, dass die Bewässerungsschläuche nur so aus ihren Halterungen flogen. Da schrie die Chefin plötzlich „Alle reinkommen zum Baden!“. Onkel Ari zog gleich den Schwanz ein und legte die Ohren an. „Was ist denn los?“, fragte ich ihn. „Warum werden wir gerufen?“ „Das werdet ihr gleich merken“, brummelte er sichtlich unlustig. Mir war es nicht ganz geheuer, besonders als ich merkte, dass auch Tante Kyra keinen sehr glücklichen Eindruck machte. Doch als die beiden Großen schließlich fügsam zum Haus trotteten, rannten wir hinterher. Vielleicht gab es ja auch was Feines, so zwischendurch, dachte ich mir. Ha, das Feine war Wasser! Wir wurden ins Haus gezerrt. Tante Kyra war mutig voraus gegangen, Onkel Ari war ihr widerwillig gefolgt. Zum ersten Mal waren wir in dem Haus. Ich wollte mich etwas umschauen, wurde aber von der Chefin, die ganz ohne Fell vor uns stand, in einen ganz weißen Raum gedrängt, in dem es scheußlich sauber roch und alles völlig glatt war. Wau, Tante Kyra stand in einer Art Wanne und meinte: „Kommt nur rein, es ist nur Baden, lästig aber ungefährlich“. Dann schauten wir zu wie die Chefin Tante Kyra mit etwas einrieb, was sie fast weiß machte, obwohl sie schwarz war. „Aha, baden und färben“, dachte ich mir. Irgendwoher wusste ich, was das ist. Ich glaube, die Frau in dem Haus, in dem wir ganz früher wohnten, färbte ihr Kopffell immer schwarz ein. Zuerst war es grau, dann wurde es weiß, dann wurde es eingewickelt und dann war es schwarz. Aber Kyra war doch schon schwarz. Vor lauter Nachdenken hielt ich den Kopf ganz schief und die Chefin, die das wohl komisch fand, fing an zu lachen. Lara lachte auch mit, „Hi, hi, Tante Kyra wird ganz weiß“. „Hört mit der blöden Lache auf“, brummte Tante Kyra. „Das ist Seife, damit das Fell schön sauber wird, ihr Küken!“ „Was sind denn Küken?“, fragte Lara. „Dumme, junge Hühner“, meinte Onkel Ari. Ach so, Hühner, die einen pickten. Da mussten wir gleich noch mehr lachen. Das Lachen verging uns aber schnell, denn nach Tante Kyra kam Onkel Ari dran, bei dem das Baden um einiges rascher ging. Er hat ja auch weniger Haare als Tante Kyra, und dann als nächste war Lara dran. Auch sie bekam Seife ab, so dass ihre dunklen Flecken fast weiß wurden, und eine Brühe lief da von ihr herunter. Fast nicht zu glauben, dass ein junger Hund so dreckig sein kann. „Seht ihr, dass das nötig ist?“, fragte Tante Kyra. "Es ist manchmal ganz gut wieder richtig sauber zu sein, dann juckt das Fell nicht mehr so". Also mir juckte das Fell ganz schön als ich die eingeseifte Lara sah. Doch Lara meinte, dass es wirklich nicht so schlimm wäre, wie es aussieht. So fügte auch ich mich schließlich einigermaßen willig und ließ mich baden, und es war wirklich nicht so schlimm. Anschließend war ich perlweiß und mein Fell war schäfchenweich. Und nun das Haus anschauen, dachte ich mir und wollte gerade in das nächste Zimmer flitzen. „Raus mit euch nassen Kötern“, brüllte die Chefin und riss die Tür auf und schob uns hinaus ins Freie. Kurze Zeit später kam sie aber mit vier Stückchen Wurst, etwas ganz Feinem. „So, zur Belohnung, weil ihr beim Baden so brav wart“. Wenn ich das gewusst hätte, dass es nach dem Baden was Feines gibt, hätte ich gar nicht so lange gezögert, sondern wäre gleich als Erste in die Wanne gesprungen. Gut, nun wussten wir, was Baden war.

Lucy und Lara schlafend
Nach dem Bad, sauber wie noch nie zuvor

Ach, hier bei Tante Kyra und Onkel Ari war es einfach schön. Hier brauchten wir nicht mehr zu warten, bis jemand das Essen brachte. Hier gab es feste Regeln fürs Essen. Immer morgens und abends stellten uns Chefin oder Boss zwei richtige Futternäpfe mit Essen hin. Wasser stand den ganzen Tag zur Verfügung. Und wenn Chefin und Boss mit Ari und Kyra abends in dem Haus verschwanden, krochen wir in unser Häuschen und schliefen ruhig und sicher. Ich träumte allenfalls noch manchmal von Hexen und von früher. In dem Garten wohnten noch drei andere Tiere. Was für Viecher das genau waren, wusste ich lange nicht. Inzwischen weiß ich, es waren Meerschweinchen. Sie hießen Tito, Rudi und Fetz und waren eine Dreierbande, die in einer Hütte ähnlich der unsrigen lebte. Sie waren ganz nett anzuschauen, aber ziemlich langweilig. Man konnte nicht mit ihnen spielen, und wenn die Tür zu ihrer Hütte offen war, kamen sie zwar her um einem „Guten Tag“ zu sagen, sie kamen aber nie mit in den Garten. Ich hatte sie ein paar Mal deswegen gefragt. Ich dachte mir, die könnte man doch ganz toll durch den Garten jagen, nur so zum Spielen natürlich. Sie wollten aber lieber fressen als spielen, jedoch kein Hundefutter, sondern immer nur Gras und so Zeug. Genau genommen waren es richtige Fressmaschinen. Allerdings machte es Spaß, sich ganz leise an sie heranzuschleichen. So konnte man sie richtig arg erschrecken, aber meistens gab's dann Theater mit der Chefin, was auch wieder nicht so gut war.

Mit unserem Onkel und der Tante kamen wir insgesamt gut zurecht, auch wenn Tante Kyra uns oft schimpfte, wenn wir mal zu sehr tobten. Auch die Chefin schimpfte manchmal, und manchmal brüllte sie auch wahnsinnig laut, viel lauter als der Boss, der mehr brummte als schrie und sich anfangs ohnehin hauptsächlich mit Tante Kyra unterhielt, weil sie, und nur sie, seine Sprache verstand und sogar selber mit ihm sprechen konnte, wie sie mir immer wieder versicherte. Aber wenn die Chefin brüllte, war das etwas absolut Extremes. Als ich dieses Brüllen das erste Mal hörte, warf ich mich sofort auf den Boden und pinkelte vor Angst einfach drauf los, so furchtbar war es. Das einfach Drauflospinkel ist übrigens eine gute Technik um kritische Situationen erst mal zu entspannen. Mit Chefin' s Gebrüll kann ich inzwischen aber ganz gut umgehen, obwohl ich es immer noch fürchte. Meist mache ich es so: Ich stelle mir vor, die Chefin meint gar nicht mich, auch wenn sie in meine Richtung brüllt. Ich tu also zunächst mal so, als ob da ein ganz anderer Hund hinter mir steht, vielleicht einer, der gar nicht zu uns gehört und schau ganz verblüfft nach hinten. Sicherheitshalber setze ich mich inzwischen aber gleich hin, wenn sie so arg brüllt, und Lara macht das genau so. Wenn sie dann weiterbrüllt, ist es allerdings ratsam sofort zu ihr hinzurennen und ihr klar zu machen, dass man sie als Chefin aufs höchste schätzt. Ich glaube, es ist sehr wichtig für sie, dass sie respektiert wird, und es ist auf jeden Fall besser, sie glaubt, dass wir sie respektieren. Sonst bekommt sie am Ende noch eine Neurose oder gar einen Minderwertigkeitskomplex oder wie man das bei überdominanten Hunden und Menschen nennt. Lara hat es einmal auf mehrere Brüller ankommen lassen: Da hättet ihr die Chefin sehen sollen. Also schlimmer hat der neurotische Köter vom Bäcker (der mit dem Stummelschwanz, natürlich der Köter, nicht der Bäcker) auch nicht ausgesehen, als er sich mit Onkel Ari angelegt hat. Ich glaubte schon Schaum vor Chefin' s Mund zu erkennen. Sie hat die Lara gepackt und hin und her geschleudert wie einen Waschlappen. Und Lara, die manchmal ganz schön großkotzig sein kann, wurde so kleinlaut, wie damals ganz am Anfang, nach der großen Schwärze. Aber was am merkwürdigsten ist, die Chefin und ganz selten auch der Boss brüllen herum, scheinen total wütend zu sein und sind dann doch Minuten später wieder lieb und freundlich. Ich glaube, die Menschen haben einfach kein Durchhaltevermögen, wenn sie zornig sind.