1. Die große Schwärze, oder wie alles begann...

Hey, ich bin Lucy! Ich bin ein Hund, vielmehr eine Hundedame, und was für eine, nicht mehr ganz jung, aber hübsch, im besten Alter so zu sagen. Vielleicht bin ich sogar adlig, sehe zumindest so aus, wie so ein richtiger adliger Jagdhund. Nein, eingebildet bin ich nicht, ich hab ja auch gar keinen Stammbaum, ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was das ist. Da, wo wir wohnen, braucht man das ohnehin nicht. Wir sind fast alle irgendwie adlig, und meine beiden Menschen sagen, ich wäre vielleicht eine geborene „vom Olivenhain“.


Lara und Lucy
Lara, Lucy, 3 Monate alt

Das Wichtigste aber ist, ich kann schreiben, na ja, eigentlich ist das auch nicht ganz richtig so. Aber ich hab einen, der für mich schreibt, meinen Sekretär, dem brauche ich nur zu diktieren, und er schreibt alles schön brav auf... So entstand dieses Buch.
Also über die Zeit vor der großen Schwärze kann ich nur Weniges aus der Erinnerung erzählen. Es gibt da viele, viele Lücken. Tage und Wochen, von denen ich gar nichts mehr weiß. Manchmal träume ich zwar seltsame Bildergerüche. Dann merke ich, dass ich von der Zeit vor der großen Schwärze träume. Im Traum rieche ich ein weißes Haus und Menschen, die, so glaube ich inzwischen, ziemlich böse waren, denn wenn immer diese Träume kommen, spüre ich Angst und Schrecken. Ich träume von Menschenfüssen, die mich und die anderen Hunde getreten haben und von kleinen Menschen, die Steine nach uns warfen. Einer der anderen Hunde aus meinen Träumen war vielleicht meine Mama, aber ich weiß gar nicht so recht ob ich eine habe. Im Traum rieche ich oft Geschwister, ich kann aber nicht sagen wie viele ich hatte. Sicher bin ich mir nur darüber, dass ich zwei Schwestern hatte und davon eine noch habe. Diese eine heißt Lara. Sie war immer schon da und ist immer noch da und wird hoffentlich immer da sein. Die andere hieß Lisa, aber ihr Geruchsbild ist in mir schon sehr verblasst. Es ist schon zu lange her. Ich weiß nur, es war bald nach der großen Schwärze gewesen, als Lisa sich hingelegt hat und nicht mehr aufstehen wollte, nicht mehr mit uns reden wollte. Ich glaube, sie konnte uns zuletzt auch gar nicht mehr sehen, und dann war sie eines schönen Tages einfach gestorben, weg, und es gab nur noch Lara.

Doch nun der Reihe nach. Ganz genau erinnern kann ich mich an die große Schwärze. Ich bin mir deswegen so sicher, weil ich mit Lara darüber geredet habe, und sie hat die gleiche Erinnerung. Wir haben alle zusammen im Garten gespielt, Lisa, Lara und andere, deren Namen ich nicht mehr weiß. Und dann kam dieser riesige Mensch. Ich glaube, es war der Boss von all den Menschen und Hunden, die in dem Haus und Garten wohnten, in dem wir geboren sind. Dieser Mensch roch immer so böse, dass ich ihm nie getraut habe. Jedenfalls packte er Lisa, Lara und mich und steckte uns in eine Kiste, und es wurde nacht, solange, wie es vorher noch nie nacht geworden war. Ich weiß noch ganz genau wie Lisa ganz cool sagte, das sei nur ein neues Spiel, ein Versteckspiel und die Mama werde uns nachher suchen, und dann würde es etwas zu essen geben, denn wir hatten inzwischen Hunger. Doch Mama suchte uns nicht, und es wurde noch schlimmer. Die Kiste schaukelte heftig und wurde mit einem Schlag auf ein Auto geworfen. Es war das Auto, unter dem wir oft gespielt hatten, ich erinnere mich noch genau an alle seine Gerüche, und als das Auto losfuhr, wurde mir von dem Schaukeln schlecht, so elend schlecht, dass ich das Wenige, das ich in meinem Magen hatte, auf Lisa und Lara kotzen musste. Das Auto fuhr endlos weit, und wir wussten nicht wohin. Lara fing irgendwann an zu jammern, dann packte Lisa die Panik. Sie wollte raus aus der Kiste, sie musste pinkeln und kratzte an dem rauen Holz. Schließlich pinkelte sie mir auf den rechten Vorderfuß. Oh es war grauenvoll. Mir war so schlecht, ich lag in einer Ecke der Kiste, es stank bestialisch nach Kotze und Pisse. Meine Schwestern heulten aus vollem Halse, doch ich war zu schwach zum Heulen. Ich war mir sicher, wir würden bald sterben wie unser Onkel Demis, an den ich mich komischerweise noch gut erinnere. Er war eines Tages nach Hause (wo war denn mein Zuhause?) gekommen und hatte gesagt, um ihn sei alles schwarz, und er blutete aus Nase und Mund und Augen. Und dann hat er sich hingelegt und ist gestorben. Die Fliegen haben ihn gefressen. Nun war um uns alles schwarz gewesen, deswegen dachte ich mit uns sei es ebenfalls aus.

Nach Stunden oder Tagen in der schwarzen Kiste – keine von uns Dreien wusste mehr wie viel Zeit wirklich vergangen war, nur dass es sehr lange gewesen war – hörte das Schaukeln auf. Dafür gab es plötzlich einen heftigen Schlag und die Kiste knallte mit uns dreien auf der Erde auf. Gott sei dank öffnete sich der Deckel. Obgleich es weiterhin schwarz um uns war und uns alle Knochen schmerzten, fühlten wir uns jetzt doch ein wenig besser, schöpften Hoffnung. Es roch nach Bäumen, Gras und Tau, und die Schwärze war Nacht, Nacht, so wie wir sie bereits kannten. Wir waren uns sicher, gleich würden uns Mama und die anderen freudig begrüßen, würden uns beschnuppern, und wir würden unser schlimmes Abenteuer erzählen können und vor allen Dingen, gleich würde es etwas zu Essen und Trinken geben. Merkwürdig war nur, es roch nicht nach Mama und den anderen. Und es war kalt und feucht, wir froren. Ich leckte die Grashalme ab und kaute ein wenig darauf herum, doch der Hunger wurde nicht besser und der Durst auch nicht. Wir hörten den Menschen in seinem Auto rumoren, dann machte er plötzlich das Licht an und fuhr davon und hätte beinahe noch Lisa überfahren. Wir schnupperten ob er vielleicht doch irgendetwas zu essen für uns hingelegt hätte, aber da war nichts, da war niemand außer uns, da war es nur nacht und kalt, und es gab eine stinkende Kiste, in die wir uns nicht mehr hineinlegen wollten. Wir jammerten gemeinsam als wir in der Ferne Hundegebell hörten, doch es war nicht unsere Mama, die da bellte, es war jemand ganz fremdes. Wir hatten dieses Bellen noch nie gehört. Auch roch hier alles ganz anders als zu Hause, und nun, nachdem auch der Benzingeruch des Autos verschwunden war, wurde uns klar, dass wir hier wirklich ganz alleine waren und bleiben würden.

Wir kuschelten uns zusammen unter einen großen Baum und schliefen ein, hungrig, durstig, frierend und total erschöpft. Ich träumte von Onkel Demis und Mama, von leckerer Milch und Essen, das die Mama uns vorgekaut hatte. Ich jagte im Traum den riesigen Hühnervögeln nach, die in unserem Garten herumliefen, und vor denen man ständig auf der Hut sein musste, weil sie dauernd versuchten uns zu picken und aufzuessen. Gott sie Dank hat mich Mama immer gerettet, auch in diesem Traum. Gegen morgen wachte ich auf. Es war bitter kalt. Ich kroch unter Lisa und Lara und versucht noch ein wenig zu schlafen obwohl ich längst pinkeln musste und wahnsinnig Hunger hatte. Irgendwann später wärmte uns die Sonne ein bisschen auf. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen und stand auf um die Gegend zu erkunden. Lara schloss sich mir an, nur Lisa blieb noch eine Weile liegen. Sie sagte, sie fühle sich so schwach vor Hunger und Durst.

Nach einigen ausgiebigen Streck- und Dehnübungen gingen Lara und ich los um uns die Gegend anzuschauen. Wir hatten unter einem riesigen Orangenbaum geschlafen. Er war viel größer als die Bäume, die wir von zu Hause kannten. Gleich neben dem Baum war ein Feldweg und gegenüber ein rostiger Zaun. Dahinter waren wiederum Orangenbäume. Gegen den Durst leckten wir Tau von den Gräsern. Mein Magen knurrte fürchterlich und auch Lara seufzte vor Hunger. Auf dem Feldweg sah ich fast gleichzeitig mit Lara einen getrockneten Regenwurm. Ich stürzte mich voller Gier darauf, doch Lara war ein wenig näher gewesen und erwischte ihn vor mir. Zum Glück fanden wir noch ein paar Würmer, einige Käfer und halb vertrocknete Schnecken, so dass auch ich ein bisschen etwas in meinen Magen bekam.

Lara und Lucy
Hungrig und durstig durchstreiften wir die Gegend

Wir riefen Lisa und sagten ihr, dass es hier trockene Würmer und Käfer und Schnecken zum Essen gäbe, doch die kam nicht. Der Feldweg führte in ein Flussbett ohne Wasser. Da lag ziemlich viel Müll herum und viel Gerümpel wie bei uns zu Hause. Aber es roch nicht heimelig hier, sondern scharf nach wilden Hunden und Katzen. Es roch eindeutig gefährlich, darum hauten wir schleunigst wieder ab. Durch ein Loch im Zaun krochen wir in den nächsten Orangenhain, aber auch da fand sich nichts Fressbares und nichts zu trinken. Als wir wieder zum Weg zurückkamen, folgten wir ihm diesmal in Gegenrichtung. In der Ferne stand auf der rechten Wegseite ein ziemlich altes und heruntergekommenes Auto. Und noch weiter weg sah man ab und zu Autos vorbeihuschen. Dort musste eine große Straße sein. Eine solche hatte es auch bei uns zu Hause gegeben. Den ganzen Tag waren dort die Autos vorbei gebraust. Ich versuchte Lisa, die noch immer am Stamm des dicken Orangenbaums lag aufzumuntern und begrüßte sie schwanzwedelnd. Sie wedelte zwar auch ein bisschen mit dem Schwanz und hob ihren schönen schwarzen Kopf, wollte aber immer noch nicht aufstehen. Sie sah so traurig aus. Wir sahen alle traurig aus. Wir waren nie richtig dick gewesen wie andere junge Hunde, die ich später noch kennen gelernt habe. Aber wir waren auch nicht schwächlich. Doch jetzt sahen wir alle drei fürchterlich aus. Lara war noch die kräftigste von uns, aber auch bei ihr waren alle Rippen zu sehen. Auch ich selber sah aus wie Haut und Knochen, aber Lisa sah am schlimmsten aus, wie ein Skelett. Wir hatten Hunger, brauchten etwas zu essen und zu trinken. Ich konnte schon gar nicht mehr jaulen, so elend war mir.