3. Die alte Hexe...

Eigentlich ging es Lara und mir fortan ganz gut, obwohl uns die Mama fehlte. Ich dachte am Anfang ziemlich oft an sie und die anderen Hunde. Doch immer wenn ich mich richtig traurig fühlte, drückte ich mich an Lara, oder wir fingen an irgendetwas zu spielen. Wir fanden jede Menge Spielzeug. Das beste Spielzeug war ein richtiger Vogel, vielmehr ein Teil von einem Vogel. Da waren viele Federn dran, die wir ausreißen konnten. Erst später lernten wir diesen Teil eines Vogels richtig kennen. Damit können die Vögel nämlich fliegen, deswegen nennt man ihn Flügel. Wir wussten nicht, warum der Vogel seinen Flügel weggeworfen hatte. Wahrscheinlich hatte er sich einen neuen, besseren zugelegt. Ein bisschen konnte unser Flügel aber auch noch fliegen, zumindest, wenn wir ihn hoch schleuderten. Als am Abend die Frau mit dem Futter kam, zeigten wir ihr ganz stolz unser Spielzeug und warfen es hin und her, damit auch sie sehen konnte, dass es fliegen kann. Wieder gab es feines Futter, und die Frau redete mit uns und sagte so nebenbei ihren Namen, und dass sie die Chefin ist. Ich weiß zwar bis heute nicht genau, was eine „Chefin“ wirklich ist, nur soviel ist mir klar geworden: Frauen sind immer Chefinnen, und Chefinnen sind groß und stark und können herumbrüllen. An diesem Abend erfuhren wir auch den Namen des braunen Onkels, er hieß Ari und den der schwarzen Tante, sie hieß Kyra. Der große Mann hieß übrigens Micha und ist Boss, auch etwas, von dem ich nicht genau weiß, was es bedeutet. Aber egal, damals wussten wir vieles noch nicht. Auch das mit Mann und Frau war uns ganz schleierhaft. Für uns war „Frau“ immer ein kleiner, dicker Mensch und „Mann“ ein ziemlich großer, dünner. Anfangs hielt ich Chefin und Boss beide für einen Mann, und es hat lange gedauert, bis ich die Wahrheit herausgefunden habe. In diesen Tagen kamen die guten Menschen manchmal sogar zu dritt, Chefin, Boss und eine richtige Frau, so wie wir sie von früher her kannten, klein und dicklich und ein wenig wackelig. Diese Frau hieß Oma Gerda, aber auch das haben wir erst etwas später heraus gefunden. Jedenfalls kam nun täglich einer vorbei und brachte uns Essen, und das war wirklich das Wichtigste. Und wichtig war auch zu wissen, dass die Menschen doch nicht so böse waren, wie wir in unseren ersten Tagen dachten. Hm, das dachten wir so!

Jetzt, nachdem es uns besser ging und vielleicht auch weil Lisa tot war, dehnten wir unsere Wanderungen allmählich aus. Weiter zur großen Straße hin, ein ganzes Stück weiter als der Datsun, unter dem wir inzwischen schliefen, stand rechts noch ein altes Auto, ich glaube, es war ein alter Renault 5 und noch ein paar Meter weiter war ein altes Haus. Manchmal roch es dort gut nach Essen, und ich fragte mich, ob Chefin und Boss am Ende in diesem Haus wohnen würden. Nun, das würden wir bald herausbekommen! Das Haus hatte ringsum einen großen Garten, und um den Garten war ein Zaun, genauso alt und löchrig wie das Haus selbst. Im Garten kläffte oft ein Hund, allerdings kläffte der so hoch, dass wir es uns kaum vorstellen konnten, dies würden Onkel Ari oder Tante Kyra sein. Eines abends nachdem die Chefin wieder einmal blitzartig verschwunden war, schlichen wir uns durch ein Loch im Zaun in den Garten und an das Haus heran. Wir waren nicht hungrig oder durstig, nur neugierig. Eins war sofort klar: Nach Chefin, Boss oder Onkel Ari oder Tante Kyra roch es hier eindeutig nicht. Es roch nach Essen, so wie früher als wir noch bei Mama wohnten. Draußen war es schon fast dunkel und die Haustür stand offen, so dass wir ins Haus hineinschauen konnten. Lara meinte gar „Los rein, dort drin steht Essen!“, und wollte einfach so mir nichts dir nichts hineinstürmen. Mit Mühe hielt ich sie zurück. Ich hatte Angst, denn es war verdächtig still in dem Haus. Und als ob ich es geahnt hätte, kaum steckte Lara den Kopf ein wenig über die Türschwelle, da stürzte hinter uns, aus dem Garten kommend, ein ziemlich großer, kleiner Hund auf sie zu. Er war nicht viel größer als wir, aber trotzdem irgendwie groß und erwachsen. Lara jaulte laut auf und machte vor Schreck einen Satz ins Haus, ich drehte mich herum und suchte mein Heil in der Flucht. Vor lauter Angst rannte ich weit in den Garten hinein, kreuz und quer zwischen den Orangenbäumen durch und blieb dann irgendwann erschöpft stehen. „Was ist mit Lara passiert?“, ging es mir durch den Kopf. Ich lauschte und schnupperte, nichts! Der Hund verfolgte mich nicht, ich hörte aber auch nichts von Lara, kein Winseln, keinen Laut. Inzwischen war es richtig dunkel geworden.

wo ist Lara
Wo ist Lara?

Nach einer Weile kam Wind auf und ein wenig später hörte ich es dann, ein Winseln, eindeutig Laras Winseln. Es kam aus der Richtung des Hauses. Es schien von Innen zu kommen, aber doch nicht aus dem Haus. Ich spürte, sie war in Not. Ich musste sie finden, ihr helfen!. Also schlich ich vorsichtig in die Richtung, aus der das Winseln kam, immer auf der Hut, immer bereit sofort abzuhauen, falls es gefährlich werden sollte. Ich erreichte den alten Renault und stellte mit Entsetzen fest, Lara war in dem Renault gefangen, eingesperrt. Als sie mich sah jaulte sie wild und kratze an der Scheibe, jedoch sie konnte nicht heraus. Ich versuchte, die Tür des Autos von außen aufzukratzen, doch jede Mühe war vergebens. Allmählich wurde mir heiß, die Sonne stieg höher und Lara wurde es drinnen noch heißer. Sie jammerte erbärmlich und dann, patsch, flog ein Stein gegen die Frontscheibe des Autos. Im Weglaufen sah ich sie, eine alte Hexe, dürr wie ein Mann, mit wirren Haaren und ganz krumm. Sie bückte sich bereits nach dem nächsten Stein um ihn nach mir oder dem Auto zu werfen. Ich rannte was ich konnte und Gott sei Dank, die Hexe verschwand wieder. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, sie ging in das Haus. Ich wollte Lara aber nicht alleine lassen, weil ich selber so Angst vor dem Alleinsein hatte. Nur darum drehte ich wieder um und ging vorsichtig ein paar Meter zurück. Genau in dem Moment begann mein Herz vor Freude schneller zu schlagen. Ich sah die Chefin mit ihrem Fahrrad und Onkel Ari. Sie bogen gerade von der großen Straße kommend in unseren Weg ein. Schnell lief ich auf sie zu, „Hol Lara da raus!“, rief ich von weitem. An dem Renault blieb ich stehen und kratzte ein bisschen an der Autotür. „Na Süße, wo ist denn deine Schwester?“, fragte mich die Frau. Ich schaute stumm zu dem Auto. „Ja so eine Schweinerei!“, schimpfte die Chefin. „Da hat doch tatsächlich jemand den kleinen Hund eingesperrt“. Sie rüttelte wütend an der Autotür und tatsächlich, bei ihr ging die Tür auf. Ich versteh bis heute nicht, warum das bei mir nicht geklappt hatte, ich hatte doch auch gekratzt und gerüttelt und selbst an dem Ding, das sie Griff nennen herumgemacht. Jedenfalls, Lara schoss heraus, hüpfte vor lauter Freude um mich herum, und wir vergaßen in diesem Augenblick fast das Essen. Mit Onkel Ari und der Chefin, unseren Bodyguards, gingen wir zu unseren Schlafplatz, zu unserem Datsun. Dort gab es dann Futter und Wasser und nach einer halben Stunde war der Schrecken der Nacht fast vergessen.

Als wir aufgegessen hatten, fing Lara an zu erzählen: „ Also das war so ein Ding. Wie du ja noch mitgekriegt hattest, schaute ich nur ein wenig in das Haus hinein, als dieser blöde Köter von hinten ankam. Der ist kaum größer als wir, aber sein Gekläff hat mich so erschreckt, dass ich einen Satz ins Haus machte. Ich rannte also los, direkt in einen Raum hinein, in dem so ein alter dürrer Mensch saß und mich sofort giftig anfauchte. Du kannst es dir kaum vorstellen, aber dieser Mensch war erstaunlich schnell, packte mich ehe ich mich verstecken konnte und schüttelte mich, bis mir alle Knochen wehtaten. Dabei fauchte er dauernd. Ich jaulte und winselte, aber der böse Mensch ließ mich nicht los, ich glaube, er wollte mich umbringen“. „Das war die alte Hexe“, warf ich ein, „Die hatte ich heute morgen schon gesehen, als ich dich in dem alten Renault entdeckt hatte. Sie hat einen Stein nach mir und auf das Auto geworfen. Eine ganz böse Hexe ist das“. „Ja, lass mich weiter erzählen“, meinte Lara. „Also die Hexe wollte mich garantiert umbringen. Also schrie ich aus Leibeskräften, das musst du sicher gehört haben“. „Ich hab gar nichts mehr gehört, denn ich bin gerannt, soweit ich konnte. Als ich wieder normal denken konnte, war alles still und dunkel“. „Also ich schrie, so laut ich konnte, da kam plötzlich eine andere Frau – vielleicht war es ja auch eine Hexe, aber eine jüngere“. Ich weiß inzwischen aus dem Fernsehen, dass Hexen immer Frauen sind, bin mir aber nicht sicher, ob Frauen immer Hexen sind. Es ist einfach schwierig mit diesen philosophischen Themen, obwohl wir Hunde sie ja im Grunde genommen lieben. Lara fuhr fort: „Sie schimpfte mit der Alten, packte mich am Nacken und riss mich grob weg von ihr. Dann trug sie mich hinaus in die Nacht, sperrte mich in das Auto und knallte die Tür zu, dass mir die Ohren schmerzten. Vor lauter Angst hab ich alles verpinkelt. Ich wusste natürlich nicht, dass es der alte Renault war, in den sie mich eingeschlossen hatte. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich längst nicht so viel Angst gehabt. Aber von innen konnte man kaum hinausschauen. Ich hab einfach nicht gesehen wo ich war. Ich habe lange nach dir gerufen und gewinselt, aber du hast mich wohl nicht gehört“. „Doch, heute morgen hörte ich dich und bin ganz schnell zu dem Renault gelaufen. Aber dann hat die Hexe Steine geworfen, und ich bin wieder abgehauen bis ich die Chefin mit Onkel Ari kommen sah. Erst dann habe ich mich wieder her getraut“.

Wir erzählten noch eine ganze Weile von diesem Abenteuer und merkten gar nicht, dass Onkel Ari und die Chefin inzwischen längst wieder verschwunden waren. Wenn wir bloß wüssten, von wo genau die immer herkamen, dann würden wir dorthin gehen und alles würde gut. Klar wussten wir, sie kamen immer von der großen Straße, aber sie gingen immer über den trockenen Fluss in eine ganz andere Richtung. Also wo war denn ihr Haus nun? Sie mussten ja auch irgendwo wohnen! Die nächsten Tage waren kalt und regnerisch. Manchmal regnete es so stark, dass wir nur noch unter dem alten Datsun liegen konnten. Jetzt gab es jede Menge Wasser, doch wir hatten keinen Durst mehr, und Essen gab es auch jede Menge, morgens und abends von der Chefin. Morgens, gleich nach dem Aufwachen setzten wir uns auf den Weg und schauten zur großen Straße und abends, wenn es allmählich dunkel wurde, auch. Und immer kamen die Chefin und Onkel Ari, manchmal auch Tante Kyra und der Boss oder die Oma Gerda. So vergingen die Tage jetzt recht angenehm.

Doch beinahe hätten die Hexen Lara noch einmal erwischt. An einem Abend, kurz nachdem die Chefin weg war, fing es so heftig zu regnen an, dass selbst unter unserem Auto ein Bach hindurch floss. Lara erschrak wegen des vielen Wassers und fing laut an zu heulen und rannte, ich weiß nicht warum, durch eines der Zaunlöcher in den Garten der Hexe. Ich rief ihr zwar nach, doch wegen des strömenden Regens hat sie es wahrscheinlich gar nicht gehört. Doch dann hörte ich Lara plötzlich laut schreien und versteckte mich schnell auf der anderen Seite des Weges im Gebüsch. Und tatsächlich, da kam die junge Hexe und zog Lara neben sich her. Beide sahen grauenvoll aus. Die Haare der Hexe waren patschnass und hingen wirr um den Kopf, und sie hatte ein ebenso nasses schwarzes Kleid an. Laras Fell war auch patschnass und völlig verdreckt. Die Hexe hatte Lara eine dicke Schnur um den Hals gebunden. Lara konnte kaum atmen, röchelte nur noch und ließ sich mehr schleifen, als dass sie ging. Die Hexe band Lara an der Stoßstange des Datsun fest. Mir wurde mit einem Schlag klar, wir hatten zwei große Probleme. Einmal schien die Hexe inzwischen genau zu wissen, wo wir wohnten, und wir konnten doch nicht umziehen, ohne dass wir die Chefin verlieren würden, und zum anderen bekam Lara kaum Luft wegen dem dicken Seil um den Hals und zappelte daher wie wild, was alles nur noch schlimmer machte. Als die Hexe weg war, ging ich zu Lara hin und wollte sie von der Schnur befreien. Doch diese war so dick, dass es nicht möglich war sie durchzubeißen. Außerdem wurde der Regen wieder heftiger und Lara versuchte unter den Datsun zu kriechen, blieb aber mit der viel zu kurzen Schnur irgendwo hängen und konnte danach weder vorwärts noch zurück. Nicht einmal den Kopf konnte sie noch hinlegen. Aber ich blieb nahe bei ihr, so dass sie wenigstens im Sitzen ein wenig schlafen konnte. Klar, dass das keine gute Nacht war. Ich schlief kaum, denn Lara winselte die ganze Zeit. Und es war saumäßig kalt, und alles war nass. Aber auch solche Nächte vergehen, und als am Morgen die Chefin kam und Lara nicht gleich fand, da schimpfte sie wieder über die alte Hexe. Sie wusste genau, dass die Hexen die Bösen waren. Natürlich entdeckte sie schließlich Lara unter dem Auto, zog sie heraus und befreite sie. Lara war ganz schwach, hüpfte aber trotzdem vor Freude ein wenig herum und fraß dann wider Erwarten eine ganze Menge. Ich hatte im Stillen gedacht, dass mir mehr vom Futter bleiben würde an diesem Morgen. Aber egal, Lara war frei, und wir konnten wieder herumtollen, zumal der Tag trotz des Regens in der Nacht schön zu werden schien.